Denkwege in der Fotografie. Über Rüdiger Beckmanns Fotografien

Fotografie lebt von Interpretation. Die Bildbetrachtung geht daher zwangsläufig mit gewissen Denkprozessen einher – bei manchen mehr und bei manchen weniger, abhängig von den unterschiedlichsten Faktoren. Aber das ist auch nicht weiter schlimm, jeder Denkweg ist auf seine eigene Weise legitim. Auf den ersten Blick könnten Rüdiger Beckmanns Fotografien fast banal wirken. Halbnackte, meist junge Frauen. Tausendmal gesehen. Tausendmal geklickt. Tausendmal nach zwei Sekunden weitergescrollt. Wer es allerdings schafft, seine Aufmerksamkeitsspanne über diese zwei Sekunden hinaus auszudehnen, merkt, dass Beckmanns Fotografien mehr sind als bloße erotisierende Effekthascherei. Viele der Bilder setzen sich mit Sexualität auseinander, keine Frage; aber des Pudels Kern liegt in eben der Auseinandersetzung mit und nicht der Ausnutzung von  eben jener Sexualität.


Die Portraitserien sind zum Teil über mehrere Jahrzehnte angelegt. Sie entwickeln sich nicht nur weiter, sie beeinflussen auch die Entwicklung der Portraitierten. Schritt für Schritt, Sitzung für Sitzung schnüren sie das immer enger werdende Korsett aus Fremd- und Selbsterwartungen der digitalisierten Leistungsgesellschaft wieder auf – bauen Vertrauen auf und Ängste ab. Manche Person ist auf verschiedenen Fotografien in verschiedenen Lebensphasen und Lebenslagen ausgestellt. In Reihe nebeneinander aufgehängt sind sie von den meisten Betrachter*innen nicht mehr wiederzuerkennen. Beckmann verzichtet bei seiner Arbeit auf aufwändiges Licht und künstliche Posen; die meisten seiner Fotografien entstehen in seiner Wohnung, ausgeleuchtet von schwummrigem Umgebungslicht und bewusst unterbelichtet auf Film fotografiert, um störende Rückkoppelungen auszuschließen. Während der Sitzung geht es nur sekundär um die Fotografie. Primär geht es um den Prozess des Selbstseins und Selbstseindürfens, des Nichtversteckenmüssens, des Selbstwerdens; oftmals beschleunigt von Alkohol.

Das Über-Ich sei alkohollöslich, hat ein kluger Mensch einmal gesagt. Und in gewisser Weise scheint Beckmanns Fotografie diese These zu stützen, wenn man sich ertappt, im Freud’schen Strukturmodell zu denken. Manche der Fotografien können sich den Betrachtenden nur mit Kontext erschließen. Auch das ist bewusst so, wie es ist. Wer sich darauf einlässt, zuzuhören und ein Bild ein zweites Mal zu betrachten und neu einzuordnen, dem tut sich eine Deutungsebene auf, die auch der eigenen Selbstwahrnehmung gut tun kann. Sie hilft dabei, das Wirrwarr aus medial konsumierbaren Zerrbildern einer sich zu Tode optimierenden, physischen, mental jedoch digitalisierten Gesellschaft ein Stück weit zu entzerren: Es ist okay, so wie man ist. Das Nichtverstellen ist integraler Bestandteil der Fotografien und bedingt ihre durchschlagende Wirkung. Ehrlichkeit ist die geheime Zutat, die die Fotografien von den Abermillionen schwummrig ausgeleuchteten, sexualisierten Bildern in den Untiefen des von Algorithmen vorfiltrierten Contentsumpfes des Internets abhebt.


Die aus den Vorlagen angefertigten Cyanotopien reduzieren gewissermaßen die Deutungsmacht der eigenen Interpretation. Sie nehmen viel vorweg, streichen aber auch ansonsten unzugänglichere Perspektiven heraus und bilden eine sehenswerte Metadokumentation der fotografisch begleiteten, aber auch durch die Fotografie und das Fotografiert-werden bedingten, Selbstfindungsprozesse verschiedenster Menschen. Sie schaffen ein seltenes Fenster in die emotionale Intimsphäre Fremder. Ein geistiger Voyeurismus, der seinesgleichen sucht.

Die nächste Austellung von Beckmanns Fotografien „Beyond Cyanotopia“ findet vom 27. März 2020 bis zum 05. April 2020 in der Utopiastadt Wuppertal statt. Die Vernissage ist am 27. März um 19.00 Uhr. Mehr Informationen gibt es auf der Event-Seite bei Facebook

Mehr von Rüdiger Beckmann: www.instagram.com/pixelwelten

Autor: Ludwig Hagelstein
www.ludwig-hagelstein.de